Dano und Méyer lassen wir hinter uns – Port-au-Prince: Eine andere Welt
29. Juni 2017Baustelle – Tag 2 –
30. Juni 2017Deutsche Botschaft und ganz viel Port-au-Prince
Ich wache auf – der gute Schlaf hat mir gut getan. Das Guesthouse von Josephine ist eine Oase. Eine Oase der Ruhe und Geborgenheit – hier im sonst so turbulenten Port-au-Prince. Josephine (die Hausherrin) hat uns hier alle Türen geöffnet. Alles steht uns zur Verfügung – wir dürfen jede Türe öffnen. Auch die Kühlschranktüre. Die Sonne steigt hinter den Hügeln auf – der Tag beginnt. Ich bin schon um 06:00 Uhr wach – stehe auf – kümmere mich um meinen Blog. Dieses Tagebuch ist sehr wichtig für mich – bringt es mich doch gedanklich und emotional nochmal in den letzten Tag zurück.
Auch heute wird ein spannender Tag – besonders der Besuch in der Deutschen Botschaft ist für uns sehr wichtig. Da wir hier immer ein Update zur aktuellen Situation in Haiti erhalten. Am Vormittag wollen wir aber noch eine Tour durch die Stadt machen. Wir haben 3 Motorrad-Taxen gebucht – und den Reiseführer Serge. Wir treffen uns am Eingang zum Wohngebiet in dem das Guesthouse steht – dieses Gebiet wird rund um die Uhr bewacht. Es kommt nur rein – wer autorisiert ist. Serge – er spricht sehr gut englisch – erläutert uns kurz die nächsten 3 Stunden. Es scheint spannend zu werden. Wir nehmen auf den Motorrädern Platz – es geht los. Fancy – mein Fahrer bewegt sich mit einer Selbstverständlichkeit durch den Horrorverkehr. Ich wollte hier nicht an irgendeinem Steuer sitzen müssen. Ich erkenne kein System. Keine Regel. Das wichtigste Utensil scheint die Hupe zu sein. Serge zeigt uns die Architektur, die französische Einflüsse hat (Chantier-Architecture). Diese Art von Häuser stehen übrigens auch in New Orleans.
Der Ritt durch die Stadt – in einige Stadtviertel und in Downtown (also richtig rein ins Getümmel) – zeigt mir zum ersten Mal, was diese Stadt so zu bieten hat. Wir tauchen ein in das haitianische Leben. Es ist phantastisch. Wenn auch etwas fremd. Serge erzählt uns viel über die haitianische Geschichte. Über die spanischen und französischen Einflüsse. Über die Sklavenzeit. Über den Weg in die Unabhängigkeit. Über die aktuelle Situation und die Aufgaben, die jetzt anzugehen sind, damit es eine positive Veränderung hier in Haiti gibt. Ob das gelingen wird – ich kann es nicht sagen. Dafür fehlt mir der Einblick und der Überblick. Es hört sich aber kompliziert an. Der neue gewählte Präsident ist wohl gewillt, das ein oder andere in die richtige Richtung zu bewegen. Ob aber der Senat – hier sitzen die Strippenzieher, die auch vorher schon da saßen – jeden dieser Wege mitgehen wird, ist eher fraglich. Wir werden sehen. Für uns und unser Projekt ist in erster Linie die Bildungspolitik entscheidend – gibt es finanzielle Unterstützung auch für private Schulen – dann könnten auch wir davon profitieren. Auch das wird ein langer Weg.
Ich bitte Serge mit uns zum Downtown-Market zu fahren. Den ganzen Vormittag habe ich keinen weißhäutigen Menschen gesehen. Erst recht nicht hier in diesen Markthallen. Dieser Ort wurde von der Telefongesellschaft Digicel nach dem Erdbeben wieder neu aufgebaut. Hier pulsiert das Leben. Hier gibt es alles. Vor allem viele Menschen. Sie bieten ihre Waren an. In der einen Halle gibt es Souvenirs und andere Alltagswaren – die Menschen wissen, dass wir potentielle Abnehmer sind. Ist ja auch unübersehbar. Serge hat überall seine Leute. Schon am Eingang kommt ein Mann auf uns zu, der uns durch die gesamten Markthallen mit begleitet. Serge vorne draus – er hinter uns her. Wenn wir uns für etwas interessieren, dann vermittelt er und kümmert sich. Rückt uns jemand zu eng auf die Pelle, dann weißt er sie zurück. Es ist ein bißchen ein bedrückendes Gefühl – durch die Anwesenheit von Serge und seinem Partner fühle ich mich aber doch einigermaßen gut. Mich interessiert noch die 2. Halle in der es Lebensmittel gibt. Hier gibt es Kräuter, Schokolade, Gewürze, Obst und unendlich viele Menschen. Und wir mitten drin. Ein tolles Erlebnis. Weil wir hier Haiti und seine Menschen erleben. Ich bin mir sicher, dass wir hier ohne Guide sicherlich nicht herkommen würden bzw. hergekommen wären. Es ist beeindruckend. Zum ersten Mal – und ich bin nun zum 4. Mal in Haiti – tauche ich in die haitianische Kultur, die Geschichte und das Leben ein. Es ist hoch interessant – und gibt mir ein besseres Gefühl für die Menschen hier. Warum sind sie so, wie sie sind. Das hat ja seinen Grund – besser viele Gründe. Nach dem aufregenden Besuch im Market bringen uns die Fahrer in ein Restaurant in der Nähe der Deutschen Botschaft. Wir verabschieden uns von Serge – ich erzähle ihm noch von unserem Projekt in Dano. Er hat ein ähnliches Schulprojekt in den Slums von Port-au-Prince. Auf diesem Gelände leben 400.000 Menschen unter schlechten Bedingungen. Wir versprechen uns, dass wir uns beim nächsten Besuch wieder sehen werden. Wieder ein Baustein in unserem Haiti-WIR-helfen-Netzwerk. Serge möchte mir beim nächsten Mal sein Projekt zeigen – und ich möchte, dass er uns in Dano besucht. Die Verabschiedung ist herzlich – obwohl wir uns gerade erst vor 3 Stunden zum ersten Mal begegnet sind. Im Restaurant essen wir eine kleine Pizza. Die Preise sind hoch – für 2 Pizzen (ich habe die Small-Variante bestellt) und 2 Flaschen Wasser bezahlen wir 35 US-Dollars. Heftig. Wer kann sich das denn hier eigentlich leisten?
Der Fahrer, der uns zur Deutschen Botschaft bringen soll, ist verspätet. Das ist aber hier in Haiti nichts besonderes. Ich gebe in der Deutschen Botschaft Bescheid, dass wir eine viertel Stunde später kommen. Für uns Deutsche gehört das zum guten Ton. Die Eintrittskontrolle ist sehr gewissenhaft. Die Rucksäcke werden geprüft. Wir werden abgetastet. Die Handys müssen am Eingang abgegeben werden. Frau Kestler (Erster Sekretär) empfängt uns herzlich. Sie war nach dem Erdbeben für 2 Jahre schon hier. Und jetzt wieder seit letztem Jahr. Die Botschaft ist mit Botschafter Auster und ihr – mit also nur 2 Vertretern – besetzt. Dazu ein paar Mitarbeiter/innen, die die Schreibarbeit machen. Sie nimmt sich viel Zeit für uns. Wir stellen Fragen zur aktuellen politischen Situation, zur wirtschaftlichen Zukunft, zur Bildungspolitik – und natürlich auch zu Themen, die unser Projekt in Dano betreffen. Auf was müssen wir achten? Was dürfen wir auf keinen Fall falsch machen?
Ein wichtiger Aspekt ist – so Frau Kestler – dass wir die Haitianer mit in die Pflicht nehmen. Sie müssen sich für das Schulprojekt mit engagieren – sie müssen etwas tun. Wenn wir nur geben – und nichts dafür einfordern – dann werden sie das nehmen und noch mehr fordern. Darüber müssen wir nachdenken und konkrete Aufgaben mit Pastor Dominique vereinbaren. Ohne Gegenleistung gibt es kein Geld von uns. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Bezahlung von Schulgeld. Das wurde bisher in Dano sehr großzügig behandelt. Die meisten Familien zahlen kein Schulgeld – weil sie es sich (scheinbar) nicht leisten können. Vielleicht würde der Verzicht auf das Handy für einen Monat weiter helfen. Ich denke an vielleicht 12 US-Dollars – das entspricht ca. 1.200 haitianische Dollars. Also einen US-Dollar im Monat. Viel Geld für die Haitianer in Dano – ohne den finanziellen Beitrag können wir aber die Schule nicht so betreiben, wie sie betrieben werden soll. Eine neue schönen Schule – kein Schulgeld – die Folge ist, dass viele Eltern ihre Kinder nach Dano schicken werden. Kann man nachvollziehen. Wir wollen eine qualifizierte Schule werden – mit gut ausgebildetem Lehrpersonal – mit Schulspeisung für die Kinder – mit einer einfachen aber ordentlichen Schulausstattung. Das geht nur dann, wenn das komplette System passt. Oh weh – da kommt noch einiges auf uns zu. Frau Kestler nimmt sich viel Zeit – mit Geduld und fundiertem Wissen beantwortet sie unsere Fragen. Ich stelle ihr unser Projekt in Dano vor – spreche über Anneliese und ihre Schulen in Méyer und Gérard. Anneliese ist hier in der Botschaft ein Begriff – hat der letzte Botschafter (Herr Schick) ihr doch im letzten Jahr den Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland in Méyer verliehen. Ich kann aber auch feststellen, dass Haiti-WIR-helfen e.V. in der Deutschen Botschaft bekannt ist – durch unsere regelmäßigen Besuche hier – immer, wenn wir im Land sind – und unsere unterjährigen eMail-Informationen, sind wir hier gut platziert. Wir haben uns einen Namen gemacht. Das hilft uns – ein Teil des Netzwerks. Gegen 15:00 Uhr verabschieden wir uns von Frau Kestler. Noch ein Foto am Ausgang mit dem Bundesadler – dann bringt uns der Fahrer zurück ins Guesthouse. Der Tag bis hierher war anstrengend ob der vielen Eindrücke. Wir haben uns für den Abend mit Jameson und seinem Freund Markens verabredet. Wir wollen hier in der Gegend gemeinsam Essen gehen.
Die 2 Jungs kommen spät. Es ist schon nach 5 Uhr. Der Weg von ihnen zu uns ins Guesthouse quer durch die Stadt ist weit. Und eine Infrastruktur mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie bei uns gibt es hier nicht. Sie müssen die letzte Wegstrecke von der Hauptstrasse – bis hierher sind sie mit dem Tap-Tap (Pritschenwagen mit Sitzplätzen) gefahren. Von der Hauptstrasse bis zu uns mussten sie laufen. Sicher mindestens eine halbe Stunde. Ich freue mich, Jameson wieder zu sehen. Die Begrüßung ist herzlich. Wir haben viele Themen, die wir besprechen. Das eine ergibt das andere. Ich habe die Vision, mit Jameson in die Zukunft zu blicken. Vielleicht wird er – wenn er mit seinem Studium in 2 Jahren fertig ist – nach Deutschland kommen. Er möchte lernen. Er möchte Dinge kennen lernen – und die guten Dinge nach Haiti mitbringen. Er hat Visionen. Das ist gut so. Ich bin gespannt, was aus unseren Überlegungen werden wird. Jameson möchte Deutsch lernen – ich glaube, er wird es tun. Weil er ein Ziel hat. Und er weiß, dass nur dann, wenn er sich engagiert auch etwas entstehen kann. Die Idee mit dem Restaurant-Besuch haben wir verworfen – das Guesthouse liegt etwas Abseits. Wir müssten zu weite Wege gehen. Und einfach mal so eben ein Taxi rufen oder in den Bus zu sitzen – no way. Also trinken wir ein oder zwei Bier. Das Miteinander ersetzt die Mahlzeit. Als es dann zu dämmern beginnt – machen sich die zwei wieder auf den Weg. Auch für sie ist der Weg durch die dunkle Nacht nicht ganz ungefährlich. Wir haben uns für morgen verabredet. Wenn es uns gelingt, ein Fahrzeug mit Fahrer für den Tag zu bekommen – zu annehmbaren Preisen – dann werden wir mit ihnen den Tag verbringen. In ihr Leben eintauchen.
Ich sitze noch unter dem Sternenhimmel – denke viel nach, mache Notizen, plane an unserem Projekt in Dano weiter. Der Tag heute und die Gespräche haben mir noch einen anderen Blick auf die Menschen hier in Haiti und für unser Projekt gegeben. Eines wird mir immer klarer. Wir müssen die Haitianer noch mehr mitnehmen. Auch was das Thema Verantwortung angeht. Ich werde das mit Jameson abstimmen – er wird es an Pastor Dominique weiter geben. Und dann müssen wir es gemeinsam umsetzen. Es wird spät. Erst gegen Mitternacht lege ich mich ins Bett. Die Gedanken kreisen. Vor allem denke ich viel an zuhause. Ich spüre, dass ich meine Frau Andrea und meinen Sohn Toni sehr vermisse. Meine Eltern. Meine Freunde. Ich spüre aber auch große Dankbarkeit, dass meine Familie mir das hier alles ermöglicht. Es kostet Geld. Es nimmt die Zeit. Es benötigt Kraft. Der Gegenwert, den ich dafür erhalte ist aber nicht damit aufzuwiegen. Danke Andrea – ich liebe Dich! Mit diesen Gedanken schlafe ich ein.